Abt. 207 - Naphtol Chemie

Umfang 23 lfd. m
Laufzeit 1830 - 2006
Findmittel Datenbank; Findbuch, bearb. von Ulrich Eisenbach, 2015

Geschichte des Bestands

Das Archiv des Werks Offenbach der früheren Hoechst AG wurde Anfang Dezember 2010 in mehreren Ablieferungen als Depositum der AllessaChemie GmbH übernommen. Es umfasst 90 Regalmeter Akten, Geschäftsbücher, Urkunden und andere Archivalien sowie Filme, Videokassetten und eine Vielzahl von Fotografien und Negativen. Neben der originären, recht dichten Unternehmensüberlieferung finden sich auch Kopien aus öffentlichen Archiven, vorwiegend aus dem Stadtarchiv Offenbach a.M., die für eine Ausstellung und eine Festschrift zum 150jähren Bestehen des Werks 1992 zusammengetragen wurden.

Das 150jährige Werksjubiläum war auch der Anlass dafür, historische Unterlagen aus den verschiedenen Abteilungen in einem besonderen Archivraum zusammenzutragen und mit der Verzeichnung der Archivalien zu beginnen. Über bescheidene Anfänge freilich sind diese Arbeiten nicht hinausgekommen. Bedauerlicherweise sind bei dieser Gelegenheit Akten auseinander gerissen und Schriftstücke unter sachthematischen Aspekten zu neuen Akteneinheiten zusammengefasst worden. Die Rekonstruktion der Aktenordnung wurde dadurch erschwert und für viele Bereiche unmöglich gemacht. Dem vorliegenden Findbuch liegt im Wesentlichen der Organisationsplan des Werks Offenbach der Farbwerke Hoechst AG von 1962 zugrunde.

Geschichte des Unternehmens

Gründung durch Ernst Sell

Das spätere Werk Offenbach der Hoechst AG geht auf die 1842 von Dr. Ernst Sell errichtete chemische Fabrik zurück. Sell hatte bei Justus Liebig in Gießen studiert und sich in seiner Dissertation mit dem Steinkohlenteer beschäftigt. 1837 gründete er mit Dr. Conrad Zimmer in Frankfurt-Sachsenhausen die “Chemische Produkten-Fabrik Zimmer & Sell”. Fünf Jahre später machte er sich selbständig. Am 13. August 1842 erwarb er im Osten von Offenbach das Gelände einer Hofraite und Ziegelei und errichtete darauf die vermutlich erste Teerdestillation Deutschlands. Zu seinen Produkten, die bald auch Abnehmer im europäischen Ausland und in Übersee fanden, gehörten das als Antiseptikum und Desinfektionsmittel genutzte Phenol, das als Mottenpulver dienende Naphtalin, Ruß für die Lack- und Druckfarbenherstellung, Salmiak, Pech und eine ganze Reihe weiterer Chemikalien.


Karl und Eduard Oehler

Am 28. August 1850 verkaufte der gesundheitlich angeschlagene Sell seine aus drei Gebäuden bestehende Fabrik für 23.500 Gulden an Karl Oehler, einen gebürtigen Frankfurter. Oehler hatte Theologie studiert und war dann als Lehrer in die Schweiz gegangen, wo er die Tochter eines Textilfabrikanten heiratete. Auf Wunsch seines Schwiegervaters studierte er u.a. in Paris Chemie. Dort freundete er sich mit Justus Liebig an, der ihm wahrscheinlich den Erwerb der Sell’schen Fabrik vermittelte. Oehler gab 1856 nach einem Brand die Teerdestillation auf und wandte sich der Harzdestillation sowie dem Handel und der Verarbeitung von Farbhölzern und Färbereihilfsmitteln zu. So stellte er aus Phenol und Salpetersäure Pikrinsäure her, die den Seidenfärbern als gelber Farbstoff diente. Aus Harnsäure und Salpetersäure gewann er das orangerote Murexid.

Um 1860 nahm Oehler die Herstellung der Teerfarbstoffe Mauvein und Fuchsin auf. Auf der Weltausstellung 1862 in London wurde er für seine Farbstoffe mit einem Preis ausgezeichnet.

Der Erfolg der Teerfarbstoffe ermöglichte es Oehler, sein Unternehmen auszubauen. Ende der 1860er beschäftigte er rund 80 Arbeiter und produzierte 40.000 Pfund Anilinfarben.

1870 zog sich Karl Oehler aus dem Geschäft zurück und übergab die Leitung an seine beiden Söhne Eduard und Carl, der 1879 aus dem Unternehmen ausschied. Eduard Oehler hatte in Zürich Chemie studiert und arbeitete seit 1859 im väterlichen Betrieb. Unter seiner Leitung wurden 1873 die neuen Farbstoffe Methylviolett und Methylgrün herausgebracht. 1875 folgten Alizarin und die Wasserblaufarben. 1875 produzierte die Firma K. Oehler allein bei den blauen Farben ein Sortiment von über zwölf Marken.


Chemische Fabrik Griesheim-Elektron

Die steigende Nachfrage veranlasste Eduard Oehler, eine neue Anilinfabrik zu bauen, die 1883 in Betrieb ging. 1898 erreichte die Produktion von Anilinöl und -salz eine Höhe von zusammen 6.000 t - das entsprach etwa einem Drittel der in Deutschland hergestellten Menge. Zugleich wurde die Forschung ausgebaut. Als erheblicher Wettbewerbsnachteil allerdings erwies sich, dass das Unternehmen über keine eigene Säureproduktion verfügte und so den immer größeren Bedarf an diesen Grundchemikalien bei Konkurrenten decken musste. Als Oehlers Pläne, in Offenbach eine Säurefabrik zu errichten, am Widerstand der Stadt und der Anwohner scheiterten, entschloss er sich 1905 zum Verkauf des Unternehmens.

Für 8,8 Millionen Mark erwarb die Chemische Fabrik Griesheim-Elektron die Firma K. Oehler, die zu diesem Zeitpunkt 530 Beschäftigte zählte. Die Produktion beider Unternehmen ergänzte sich ideal: Griesheim stellte die anorganischen Grundrohstoffe her, Offenbach Farbstoffe und Zwischenprodukte. Die Leitung des Werks übernahm zunächst Prof. Bernhard Lepsius, ein Sohn des berühmten Orientalisten Johannes Lepsius, der bereits 1906 von Adolf Winther abgelöst wurde, den Miterfinder der Neville-Winther-Säure.

Fabrikation und Forschung wurden noch einmal intensiviert und die Palette der Farben weiter ausgebaut. 1911 entdeckten die beiden Offenbacher Chemiker Leopold Laska und Arthur Zitscher die Azo-Pigment-Farbstoffe, die sich durch außergewöhnliche Echtheiten auszeichneten. Das neue Sortiment erhielt die Bezeichnung “Naphtol AS” und entwickelte sich in den nächsten Jahrzehnten zu einem der erfolgreichsten Baumwoll-Farbstoffe. 1914 belief sich die Gesamtproduktion in Offenbach auf 2.100 t Farbstoffe und 18.000 t Zwischenprodukte.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Farbenproduktion stark eingeschränkt. An der Entwicklung der Naphtol AS-Farbstoffe jedoch wurde weiter gearbeitet und 1917 der Naphtol-Betrieb errichtet. Große Teile der Farbstoff- und Zwischenprodukte-Anlagen wurden für die Kriegsproduktion umgerüstet. Sie dienten der Herstellung der Sprengstoffe Dinitrotoluol und Trinitrotoluol und der Füllung von Granaten. Für die Produktion von Perchlorat Wurfminen wurde in Heusenstamm ein Zweigwerk errichtet. 1916 ereignete sich dort eine schwere Explosion, die 15 Todesopfer forderte.

I.G. Farbenindustrie AG

Im Dezember 1925 schlossen sich die bedeutendsten deutschen Farbenhersteller Bayer, BASF, Hoechst, AGFA, Weiler ter Meer und Chemische Fabrik Griesheim-Elektron zur I.G. Farbenindustrie AG zusammen. Für das Werk Offenbach der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron waren die Folgen gravierend: Der größte Teil des Fabrikationsprogramms wurde in andere Werke verlagert, etwa zwei Drittel der Betriebsgebäude abgerissen. Die Zahl der Mitarbeiter sank von 2.300 auf 550. Vor allem dem Erfolg des Naphtol-Sortiments war es zu verdanken, dass das Werk nicht geschlossen wurde. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rüstungs- und Autarkiepolitik begann die Führung der I.G. Farben Mitte der 1930er Jahre, den Produktionsstandort Offenbach wieder auszubauen. 1938 wurde der Färbesalzbetrieb errichtet.

Die Abschnürung von den Exportmärkten und der Rückgang der inländischen Textilproduktion führten mit Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einem massiven Rückgang der Farbstoffproduktion. Abgesehen von Buna-Isoliermatten für U-Boote jedoch führte das Werk Offenbach keine Rüstungsaufträge aus. Die stillliegenden Anlagen nutze man zur Herstellung von Kunstharz, Weichmachern, Konservierungsstoffen und Schädlingsbekämpfungsmitteln. Zwischen Oktober 1943 und Dezember 1944 wurden etwa 70 Prozent des Werks durch Luftangriffe zerstört. In den letzten Kriegsmonaten kam die Produktion fast vollständig zum erliegen.

Am 5. Juli 1945 besetzte US-Militär das Werk, beschlagnahmte die Anlagen und entließ die noch vorhandenen 362 Beschäftigten. Wegen angeblicher Rüstungsproduktion drohte dem Werk Stilllegung und Demontage. Die Werksleitung konnte jedoch den Stilllegungsbefehl abwenden und die Streichung von der Demontageliste durchsetzen. Als erstes genehmigte die Amerikanische Militärregierung die Produktion von Kohlensäure, das die US-Armee für die Herstellung von Trockeneis benötigte. Ab 1946 lief die Farbenproduktion wieder an. Nach der Währungsreform im Juni 1948 schritt der Wiederaufbau des Werks rasch voran, sodass bereits 1951 die Vorkriegsproduktion übertroffen wurde.

Von 1945 bis 1949 war auf dem Fabrikgelände das Offenbach Archival Depot untergebracht. Dort wurden hauptsächlich Kunstgegenstände und Bücher, die die Nationalsozialisten jüdischen Bürgern und Institutionen entwendet hatten, zusammengetragen, um sie ihren Eigentümern zurückzugeben.

Naphtolchemie

Durch Beschluss der alliierten Mächte wurde die I.G. Farbenindustrie AG entflochten und in kleinere Unternehmenseinheiten aufgespalten. Das Werk Offenbach wurde bis 1953 - zunächst unter US-Administration - als selbständige Einheit unter der Firma “Naphtolchemie” weitergeführt. Zwar entwickelte sich der Absatz der Naphtol AS-Produkte in den ersten Nachkriegsjahren gut, doch die Abhängigkeit von der krisenanfälligen Textilindustrie führte zu starken Absatzschwankungen. Auch machte sich, wie bereits vor 1905, die fehlende Rohstoffbasis negativ bemerkbar. Daher nahm die Naphtolchemie Verhandlungen mit anderen Farbenfabriken auf, an deren Ende am 27. März 1953 die Eingliederung in die neu gegründete Farbwerke Hoechst AG stand.

Hoechst AG

Dem nunmehrigen Zweigwerk Offenbach übertrug das Stammwerk neue Produkte und Verfahren, sodass es eine stabile Grundlage erhielt und für Auslastung gesorgt war. Nachdem 1954 in Höchst und Bobingen auf Lizenz der ICI mit der Herstellung des Polymerrohstoffs der Polyesterfaser Trevira und der Vorstufe Dimethylterephtalat (DMT) begonnen worden war, lief 1958 auch in Offenbach die Polyester- und DMT-Herstellung an. Der Bedarf an Kunstfasern stieg schnell an, sodass bereits 1962 die Anlagen erweitert werden mussten. Im gleichen Jahr wurde ein Farbenbetrieb für neu entwickelte Farbbasen gebaut, in dem ab 1966 Lederfarbstoffe produziert wurden. Außerdem kam der Blau-Betrieb, mit dem das Werk einst groß geworden war, 1966 nach Offenbach zurück. Schließlich übertrug Hoechst dem Werk Offenbach die Herstellung der Remazol-Farbstoffe, des neuen und erfolgreichen Sortiments für Baumwollfärberei, und baute es zum zweitgrößten europäischen Standort auf diesem Gebiet aus. 1982 schließlich erschloss sich Offenbach mit der katalytischen Luftoxidationsanlage im Zwischenproduktebetrieb Ost ein neues Arbeitsgebiet für Feinchemikalien. Gemeinsam mit der Cassella AG wurde 1985 eine biologische Abwasserreinigung in Betrieb genommen.

Schließung des Werks

1997 verkaufte die Hoechst AG ihre Feinchemikaliensparte an die zwei Jahre zuvor gegründete Clariant AG, die 1999 auch das Werk Offenbach erwarb und als Industriepark weiter betrieb. 2001 veräußerte Clariant die Werke Fechenheim und Offenbach sowie drei Betriebe im Industriepark Griesheim an eine Gruppe ehemaliger Hoechst-Manager, die zu diesem Zweck die AllessaChemie GmbH gründeten. Ende 2010 erfolgte die Stilllegung des Werks Offenbach.

Literatur

100 Jahre Offenbach, aus: Von Werk zu Werk. Werkzeitschrift der Betriebsgemeinschaft der I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, Ausgabe Maingau, August/September 1942.

Aus der Geschichte der chemischen Industrie: Entwicklung, Zerstörung und Wiederaufbau der Naphtol-Chemie Offenbach, in: Chemische Industrie, Bd. 3, 2/1951.

Dr. Sells Teerdestillation in Offenbach, Frankfurt-Höchst 1967 (Dokumente aus Hoechster Archiven. Beiträge zur Geschichte der Chemie, 26)

Dr. Werner Kirst und Dr. W. Neumann, Farbwerke Hoechst AG. Zur Entwicklungsgeschichte der Naphtol AS-Farbstoffe, in: Angewandte Chemie 66, 1954, Nr. 15, S. 429-434.

Drei Postausgangsbücher der Chemischen Fabrik Karl Oehler, Offenbach (1852-1859), Frankfurt-Höchst 1967 (Dokumente aus Hoechster Archiven. Beiträge zur Geschichte der Chemie, 27).

Hoechst AG Werk Offenbach - Fortschritt aus Tradition. 150 Jahre Chemie in Offenbach, Offenbach a.M. 1992.

Naphtol-Chemie Offenbach. Offenbach a.M. Sonderdruck aus: Die Westdeutsche Wirtschaft und ihre führenden Männer, 1952, Hessen, Bd. 1.

Dieter Wagner, Innovation und Standort. Geschichte und Unternehmensstrategien der Chemischen Fabrik Griesheim 1856-1925, Darmstadt 1999 (Schriften zur hessischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, 4)

Dieter Wagner: 150 Jahre Werk Offenbach der Hoechst AG. Sein Beitrag zur Entwicklung der Chemischen Industrie in Deutschland, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 38, 2/1993.

Zum hundertjährigen Jubiläum des Werkes Offenbach a.M. der I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, in: Chemiker-Zeitung 35/36, 2.9.1942.